Aufbruch zum Leben – das Kirchenfenster

Aufbruch zum Leben

Das Kirchenfenster „Aufbruch zum Leben“ ist 1997 von Professor Johannes Schreiter entworfen und im selben Jahr noch eingebaut worden.

Erfahren Sie mehr über den Hintergrund des Fensters in der Interpretation von Theo Sundermeier oder erleben Sie es selber bei einem Besuch in der Carolinenkirche:

Zur Form

Die Form des Fensters, ein liegendes Rechteck, ist durch die Architektur der Kirche vorgegeben. Allerdings war die Fensteröffnung durch unterschiedlich schmale und breite Verstrebungen unterteilt. An die hält sich der Künstler nicht, sondern macht sie durch einen Trick unsichtbar. Folgen wir ihm in seinem Vorgehen. Er taucht einen breiten Pinsel in einen Topf mit weißer Wandfarbe und streicht ihn kräftig von links nach rechts. Er hat etwas zu viel Farbe genommen, sodass einiges davon nach unten tropft. Plötzlich scheint die Farbe auszugehen, der Untergrund wird hier und da sichtbar. Doch nun drückt der Maler noch einmal kräftig mit dem Pinsel auf den Untergrund und setzt ihn ab. Ein weißer Fleck entsteht. Das ist ein unglaublich einfacher, für die Konstruktion des Bildes aber genialer Einfall. Wir alle kennen solch einen Streichvorgang, haben alle schon einmal nach dem Tapezieren so mit dem Pinsel gestrichen, haben uns über das Herablaufen der Farbe geärgert und dann noch einmal nachgesetzt, um auch den letzten Rest der Farbe aus dem Pinsel zu drücken. Dann wird der Farbklecks verstrichen, sodass der Untergrund nicht mehr sichtbar ist. Nicht so Schreiter: Er lässt den ungewollten Klecks so stehen, wie er ist, was der ganzen Bewegung eine besondere Lebendigkeit gibt.

Aber das ist noch nicht das ganze Bild. Schreiter hat, so will es scheinen, ein Triptychon geschaffen. Rechts und links sind deutlich abgegrenzt noch zwei schmale Bildfenster zu erkennen. Auf dem linken Seitenflügel sind einige Klammern zu sehen, die übereinander gereiht sind mit sich nach oben verlängernden Armen. Die Farbe wechselt von graublau nach weiß. Rechts dagegen sehen wir ein dunkles Fenster, das durch eine zuckende Linie, wie durch einen Blitz aufgerissen wird. Auch hier wieder die gleiche graue Farbe unten, die durch ein dunkles schwarzblaues Rechteck oberhalb ersetzt wird.

Soweit zu Aufbau und Form des Fensters. Doch halt! Wir sollten nicht so sicher sein, dass wir richtig gesehen haben. Muss das Bild von links nach rechts oder sollte es von rechts nach links gelesen werden? Wir lassen die Frage zunächst unbeantwortet und vertrauen uns dem ersten Eindruck an, um den inneren Sinn des Fensters zu erspähen.

Zur Botschaft

Ein gelegentlich gemachter Hinweis von Johannes Schreiter erleichtert den Einstieg in der Suche nach dem inneren Sinn des Fensters. Er sagt, dass in seinen Bildern die Bewegung von links nach rechts etwas mit der Bewegung vom Leben zum Tod zu tun habe. Er verweist dabei auf die Bewegung der Hand beim Schreiben. Links beginnt man kräftig zu schreiben, rechts markiert das Ende der Zeile – so jedenfalls in unserer Schreibkultur. In der semitischen ist das allerdings anders, dort schreibt man von rechts nach links, in der ostasiatischen von oben nach unten.

Die thematische Überschrift „Aufbruch zum Leben“ und die Bewegung von links nach rechts als Hinweis auf das dem Tode entgegen gehende Leben sind wichtige erste Schritte zur Deutung des Fensters. Im Mittelalter begann der Siegeszug des Glases gegenüber der Steinbildhauerkunst damit, dass man das beinahe körperlose Material als Brücke zum Ewigen verstand. „Jedes Glas, auch das von dem Naturlicht durchleuchtete, inkorporiert das Wort Gottes, das Licht des Vaters, das durch den Leib der Jungfrau gegangen ist“ (Bernhard von Clairvaux). Das opake Glas lässt nicht die Welt herein. Es war sicherlich ein Fehler, als man in der Nachkriegszeit die Kirchen mit reinem Fensterglas austattete, damit die Welt in den Kirchenraum hineinreicht. Man wollte in der Kirche die Welt stets vor Augen haben – und merkte nicht, wie man dabei die Fähigkeit verlor, auf Gott zu hören. Dagegen wehrt sich Schreiter vehement. Zuerst und vor allem muss Gottes Licht leuchten. Opakes Glas, das Schattenbildungen im Innern verhindert und das Tageslicht in sich aufsaugt, sodass es abends noch in der Dunkelheit Leuchtkraft behält, symbolisiert am klarsten das reine Licht des Himmels. Das Licht im Paradies wirft keine Schatten! So weist die Farbe weiß als Farbe der Reinheit und des Lichts auf das Evangelium, auf den Glauben, auf Gott. In das triste Grau des Lebens, in den Käfig des selbstverliebten Ichs (durch das dunkle Rechteckt links angedeutet) bricht Gottes Licht herein und verändert tiefgreifend den Lebensweg des Menschen. Der Weg wird hell, sinnvolles Leben, überschüssig, überfließend, Fülle des Lebens (Jh. 10,11) wird erkennbar. Gott spart nicht mit seinem Segen. Aber es ist nicht der Mensch, der sich dieses Licht erwerben, der sich selbst den Sinn des Lebens geben kann. Es ist Geschenk, reines Geschenk. Wir können nur eines tun, es erbitten.

Darauf weist der linke Flügel des Triptychon. Die „Klammern“ sind immer wiederkehrende Zeichen auf Schreiters Glasfenstern. Sie haben in den unterschiedlichen Zusammenhängen verschieden Bedeutung. Doch eine Bedeutung herrscht vor, die auch hier gilt: Es sind zum Beten geöffnete Hände, nach oben zum Beten ausgestreckte Arme. Unten sind sie noch zaghaft erhoben, im Grau des Alltags kaum zu sehen. Doch dann wagt sich der Beter vor und streckt seine Hände immer mehr dem Licht entgegen, bis das Licht sich so verbreitet, dass der Beter ganz davon durchdrungen wird. Immer mutiger betet, ruft und lobt er. Das mit Gewalt aufbrechende Licht auf dem Mittelteil des Triptychon stellt so etwas wie eine Erhörung des Gebetes dar. Wo dieses Licht aufleuchtet, schenkt es Freiheit, eröffnet es Lebenssinn, gibt es Weggeleit. Schreiter hat das selbst erfahren. Darum gestaltet er das Fenster jedem zur Ermutigung. Dieses Licht ermöglicht den Aufbruch in den neuen, von Gottes Nähe bestimmten Lebensweg. Es will jeden begleiten, der aus dem Gottesdienst, in dem das Licht Gottes in der Predigt und den Sakramenten empfangen wurde, hinausgeht in seine Alltagswelt…

Aber dann kommt ein Abbruch. Hier im rechten Flügel des Triptychon herrscht Dunkelheit. Das in sich geschlossene schwarzdunkle Rechteck ist wie die Nacht des Grabes. Wir gehen dem Tod entgegen, wir alle, sagt es. Dem müssen wir uns stellen. Aber müssen wir uns fürchten, vor ihm erzittern? Versagt der Glaube angesichts des Todes? Wo bleibt das Licht Christi, wenn es dunkel um uns wird? Der gezackte Blitz durchbricht die Dunkelheit. Der Vorhang im Tempel zerreißt beim Tode Jesu von oben nach unten in zwei Teile (Mt 27,51), die Felsen zerspringen, und bei seiner Auferstehung muss der Stein, der das Grab verschließt, weichen. Es ist gerade dieses Schlussbild, das uns einerseits als ein „Memento mori“ an unser Ende erinnern will, „auf dass wir klug werden“ (Ps 90,12), andererseits uns dessen gewiss macht, dass auch in unser Grab das Licht des Ostermogens wie ein Blitz hineinfahren wird. Wir gehen zwar dem Tode entgegen, aber auch der Auferstehung. Das Grab ist das Tor zum Leben! Christus hat es als erster durchschnitten.

Eine Besonderheit soll nicht unerwähnt bleiben. Dreimal ist auf dem Fenster ein leuchtend dunkles Blau zu sehen. Wir finden es auf dem linken Flügel des Triptychon unter dem Schwarz, das dem Beter, den Zugang nach oben zu Gott hin zu versperren scheint, auf der linken Siete des das dunkle Leben des Menschen repräsentierenden Rechtecks im Mittelteil und schließlich rechts im dunklen Viereck bei dem hellen Blitz. Die künstlerisch überzeugende Farbvariante enthält eine wichtige Botschaft. Blau ist die Farbe des Himmels und steht für Gottes Verlässlichkeit und Treue. Die trägt uns auch in den dunkelsten Stunden des Lebens, ja selbst im Tode. „Bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du da“, heißt es in Psalm 139,8.


Blick von innen auf das Schreiter-Kirchenfenster

Das Kirchenfenster von Johannes Schreiter

Bilder snd wie Könige. Man nähert sich ihnen und wartet, bis sie zu sprechen anfangen. Was sie zu sagen haben, kann man auf verschiedene Weise verstehen. Wichtig allein ist, dass es angenommen wird. Aber nie ist das einmal begonnene Gespräch zu Ende. Bilder erlauben verschiedene Deutungen, und solange sie sich an das vorgegebene Bild halten, sollte keine gegen die andere ausgespielt werden. Neue Interpretationen gewähren neue Einsichten. Ich habe eine Deutung gegeben. Ich habe das Bild von links nach rechts gelesen, so wie man es sieht, wenn man aus der Kirche nach draußen geht und der Blick noch einmal am Fenster entlang streift. Aber man kann es auch anders sehen, z.B. wenn wir in die Kirche hineingehen. Dann lesen wir es von rechts nach links. Dann sagt das Fenster vielleicht das Folgende: Wir kommen aus der Dunkelheit des Lebens als Beschädigte, als von plötzlicher Krankheit oder von einer schlimmen Nachricht wie vom Blitz Getroffene. Wir suchen das Licht, um den Weg zu finden, auf dem unser Fuß nicht strauchelt. Nun leuchtet in der Kirche ein erstes Licht auf, anfänglich zögernd noch. Hoffnung bricht auf. Je mehr wir uns dem Heiligen nähern, umso mehr erhellt das Licht Gottes das Dunkel und Grau unseres Lebens. Wir werden gleichsam zum Licht hingezogen. Wir werden zum Gebet geführt. Zusammen mit den den anderen Christen erheben wir unsere Hände. Mit dem Beter des 22. Psalms, der aus tiefer Gottesverlassenheit ruft, können wir schließlich bekennen: „ich will dich preisen in der Gemeinde“ (Ps 22,23). Der Gang in die Kirche stärkt unseren Glauben und damit unser Leben.

Wann immer wir das Triptychon sehen und das Gespräch mit ihm aufnehmen, beim Hineingehen oder zum Ausgang, wir werden Neues entdecken. Wir können uns in unserer Lebensgeschichte an verschiedenen Stellen des Fensters unterbringen und den Aufbruch zum Leben wagen. Das Fenster kann uns dabei Wichtiges und überraschend Neues sagen. Es ist ein großes Kunstwerk! Ein – hoffentlich – nicht endendes Gespräch kann beginnen, ein immer neuer Aufbruch zum Glauben.