Unruh(e) – menschlich-mechanische Triebfeder

Beruhigt es Sie? Oder macht es Sie nervös? Dieses Ticken des Weckers oder der Armbanduhr, nachts und wenn ansonsten alles ruhig ist?

Verantwortlich für das endlose Geticke ist die Unruh, das im 17. Jahrhundert von Christian Huygens erfundene Regelorgan für transportierbare Zeitmessgeräte, dessen Charakter in seiner Bezeichnung deutlich zum Ausdruck kommt und nicht nur für ein exaktes Funktionieren der durch sie angetriebenen Uhren sorgt, sondern auch für so manche taktgenaue Unruhe in unserem Leben. Die Unruh detailgetreu zu beschreiben, würde hier den Rahmen sprengen, aber sie ist unbestreitbar ein wahres Wunderwerk der Mechanik, das bis zur Erfindung der Quarzuhr das Wirkprinzip für tragbare Uhren darstellte.

Die Unruh ist nicht nur das Herz mechanischer Zeitmesser, sie ist mit ihrem rastlosen Merkmal und ergänzt um ein kleines „e“ Sinnbild für unseren Alltag, für unser Leben. Unruhe ist die Triebfeder für Fortschritt und Entwicklung, für Kreativität und schöpferisches Denken. Sie hat uns auf den heutigen Stand der Technik und zu relativem Wohlstand gebracht.

Wo wäre die Menschheit, gäbe es nicht die unentwegte Triebkraft der Unruhe, die das Uhrwerk des Lebens mit immer neuer
Inspiration in Gang hält? Andererseits bringt sie auch Hast, Anspannung und Hetze mit sich und führt im Extremfall sogar zu Energielosigkeit und Denkpa­ralyse.

Ist die Unruh(e) eine Zeiterscheinung? Mechanisch gesehen, ganz ohne Frage. Als omnipräsente Erscheinung der Gegenwart ist sie freilich ein rastloses Relikt aus der Entstehungszeit des Menschen, denn gemäß Genesis 4 wurde Kain nach dem Mord an seinem Bruder Abel ein von Unruhe Getriebener. In der Übersetzung von Martin Luther heißt es: „Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.“ War es also die Freveltat Kains, die eine solche Unruhe über uns Menschen gebracht hat, dass wir paradiesische Zustände, Stille, Beschaulichkeit, womöglich Untätigkeit, kaum aushalten können?

Der Stand der Sonne hat als Schätzwert für die Zeit nahezu ausgedient, sie lässt sich ja genau ablesen. Stattdessen verhilft die Unruh zu Pünktlichkeit, Einhaltung von Terminen, Vermeidung langer Wartezeiten, auch dazu, kurze Zeitabschnitte zwischen verschiedenen Tätigkeiten und Terminen fast verlustfrei zu füllen. Kein Gran der kostbaren Zeit soll doch vergeudet werden.
Die Unruhe hat sich allerdings zum Taktgeber unseres Alltags und selbst unserer Ferien- und Freizeit entwickelt. Nicht einmal die downgelockte Realität der C-Pandemie zwingt sie in die Knie. Ganz im Gegenteil, Aktivität und Bewegung dienen der Kompensation. Nichtstun und Leerlauf sind Todfeinde des menschlichen Daseins und das Vakuum eines aufgabenlosen oder freizeitungestalteten Tages ist für uns nur schwer auszuhalten.

Wer sich vergeblich bemüht, einer rastlos unruhigen Lebensgestaltung zu entfliehen, wem es aber nicht gelingt, das umzusetzen, sei interessante Lektüre empfohlen. Der Kieler Kulturphilosoph Ralf Konersmann hat ein Buch zum Thema verfasst. Tröstlich ist beispielsweise sein Hinweis, dass Unruhe kein individuelles, sondern ein kulturelles Phänomen ist: „Es ist nicht der Einzelne, der gestresst ist, wir leben in einer Kultur, die in sich fragmentiert, zerrissen, anstrengend, eben unruhig ist, in einer Gesellschaft, die sich als ruhe- und rastlos präsentiert“, schreibt er in „Die Unruhe der Welt“.

Hilft uns das weiter? „Stillstand kann auch nicht die Lösung sein“, meint Ralf Konersmann, denn Tatenlosigkeit ist reines Geschehen-Lassen, ein Rückzug von der Einflussnahme. Wir benötigen die Unruhe als Motivation und Impuls zur Ideenfindung, für Neuentwicklungen und nicht zuletzt auch zur Korrektur der Auswüchse, die uns ein Übermaß an Unruhe bescheren kann. Über all dem dürfen wir nur nicht vergessen, dass uns die stetige Aktivität am Loslassen hindert, uns von gesunder Entspannung und Erholung abhält.

Beispielhaft an der unruhgetriebenen Funktionstüchtigkeit einer mechanischen Uhr ist das Zusammenspiel mehrerer perfekt ineinandergreifender Komponenten. Ein wacher Geist, unstillbare Neugier, gesunde Zurückhaltung und dabei ein gelassenes Herz – das könnten sie sein, die Bausteine für ein unruhgesteuertes, aber doch maßvoll bewegtes Leben.

Dorothea Rose